Wir brauchen den einsamen Ort und die Stille.
Herzlich Willkommen zu LebensLiturgien, Staffel 6, Thema „Zeit“. Das mit der Zeit ist eine seltsame Sache: sie umgibt uns überall und bleibt doch ungreifbar. Manchmal vergeht sie quälend langsam, dann wieder viel zu schnell. Wir hätten gerne mehr von ihr – und vergeuden sie doch allzu oft. In dieser Staffel wollen wir versuchen, genau das tiefer zu verstehen und zu lernen, auf gute Weise in der Zeit zu leben.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt
und lasse es ruhig werden in mir.
Ich nehme mir Zeit und atme langsam und bewusst.
Herr über Zeit und Ewigkeit: du bist hier. Jetzt.
Meine Zeit steht in deinen Händen.
Alles hat seine Zeit. Das gilt für alles, was auf der Erde geschieht.
Neues Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit.
Kranksein hat seine Zeit und Gesundsein hat seine Zeit.
Weinen und Klage haben ihre Zeit, aber auch Jubel, Leichtigkeit und Freude.
Konflikte und Kriege haben ihre Zeit, aber auch Versöhnung und Friede.
Es gibt eine Zeit für Umarmung und Liebe, und eine Zeit für Loslassen und Sich-Trennen.
Es gibt eine Zeit für Rush-Hour, Schnelligkeit und Zeitdruck, und eine Zeit für Ruhe, Durchatmen und Pausen.
Alles hat Gott so eingerichtet, dass es schön ist zu seiner Zeit – sogar die Ewigkeit hat Gott dem Menschen ins Herz gelegt.
Nur dass der Mensch nicht in der Lage ist, das Werk Gottes zu begreifen: er durchschaut weder, wo es beginnt, noch wo es endet.
nach Prediger 3
Um uns herum ist es verdammt laut: Familie, das Radio, der Verkehr, digitale Medien, Podcasts, Fernsehen, Netflix, die Nachrichten, Werbung, Druck bei der Arbeit, Streit mit den Nachbarn, Schmerzen im Kopf, wichtige Aufgaben … all das macht uns taub: taub für die leise Stimme Gottes und taub für die leisen Stimmen in uns drin, die uns mitteilen, wie es uns und den Menschen um uns herum eigentlich geht.
Diese Taubheit ist kein neues Phänomen. Selbst zu Zeiten, als es noch wesentlich leiser war, mussten Menschen sich gegen den Lärm wehren. Auch Jesus.
Jesus wurde immer bekannter; die Menschen strömten in Scharen herbei, um ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden. Er aber zog sich in die Einsamkeit zurück, um zu beten.
Lukas 5,15f.
Das griechische Wort, das hier mit Einsamkeit übersetzt wird, hat eine Vielzahl von Bedeutungen. Es ist das gleiche Wort, das an der folgenden Stelle mit „Wüste“ übersetzt wird:
Als Jesus nach seiner Taufe aus dem Wasser stieg, öffnete sich der Himmel über ihm und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen. Auf einmal sprach eine Stimme aus dem Himmel heraus: "Das ist mein über alles geliebter Sohn. An ihm habe ich Freude!" Danach wurde Jesus vom Geist Gottes in die Wüste geführt.
Matthäus 3,16f. + 4,1
„Eremos“ lautet das Wort, um das es hier geht: es kann „Wüste“ bedeuten oder „verlassener Ort“. Es kann eine Wildnis beschreiben, eine Einöde oder einen verlassenen, einsamen, ruhigen Ort. Jesus hatte ein sehr enges Verhältnis zu diesem „eremos“: immer wieder hat er solche Orte aufgesucht, wurde vom Geist an solche Orte geführt, Jesus hat solche Orte gebraucht. Regelmäßig. Zeiten und Orte, zu denen der Lärm der Welt keinen Zutritt hatte – nicht einmal guter Lärm, wichtiger Lärm:
Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. (…) Und er heilte viele Menschen, die an den verschiedensten Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. (…) Früh am Morgen, als es noch völlig dunkel war, stand Jesus auf, verließ das Haus und ging an einen einsamen Ort, um dort zu beten.
Markus 1, 32-35
Die Frage ist doch immer: wer oder was darf bestimmen, was wir denken und was wir tun? Und da gilt: solange wir uns im Lärm dieser Welt aufhalten, wird dieser Lärm bestimmen, was wir denken und was wir tun: die Familie, das Radio, der Verkehr, digitale Medien, Podcasts, Fernsehen, Netflix, die Nachrichten, Werbung, Druck bei der Arbeit, Streit mit den Nachbarn, Schmerzen im Kopf, wichtige Aufgaben, … all das wird bestimmen, was wir denken und was wir tun.
Es sei denn, wir machen es wie Jesus und entziehen uns regelmäßig dem Lärm, indem wir einsame Orte und stille Zeiten aufsuchen. Und zwar gemäß der Faustregel: je hektischer und voller unser Leben ist, desto mehr solcher Zeiten brauchen wir. Je schwerer es uns fällt, solche Zeiten herauszuschneiden, desto dringender sind sie.
In der Stille spüre ich in mich hinein und achte auf meine Sehnsucht nach Stille und Einsamkeit.
Herr meiner Stunden und meiner Jahre, du hast mir viel Zeit gegeben.
Sie liegt hinter mir und sie liegt vor mir. Sie war mein und sie wird mein, und ich habe sie von dir.
Ich danke dir für jeden Schlag der Uhr und für jeden Morgen, den ich sehe.
Ich bitte dich nicht, mir mehr Zeit zu geben. Ich bitte dich aber um Weisheit und Willenskraft, dass ich meine Tage gut lebe.
Lehre mich, ein wenig Zeit freizuhalten von Ablenkung und Pflichten: ein wenig für Stille und Gebet, ein wenig für das Spiel, ein wenig für die Menschen um mich, die meine Liebe und meine Aufmerksamkeit brauchen.
Ich bitte dich um Sorgfalt, dass ich meine Zeit nicht töte, nicht vertreibe, nicht verderbe.
Jede Stunde ist wie ein Streifen Land. Ich möchte ihn aufreißen mit dem Pflug und Liebe hineinwerfen, damit Frucht wächst. Segne du meinen Tag.
nach Jörg Zink