Mit jedem Tag, der vergeht, vergehen auch ungelebtes Leben und ungenutzte Möglichkeiten.
Herzlich Willkommen zu LebensLiturgien, Staffel 6, Thema „Zeit“. Das mit der Zeit ist eine seltsame Sache: sie umgibt uns überall und bleibt doch ungreifbar. Manchmal vergeht sie quälend langsam, dann wieder viel zu schnell. Wir hätten gerne mehr von ihr – und vergeuden sie doch allzu oft. In dieser Staffel wollen wir versuchen, genau das tiefer zu verstehen und zu lernen, auf gute Weise in der Zeit zu leben.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt
und lasse es ruhig werden in mir.
Ich nehme mir Zeit und atme langsam und bewusst.
Herr über Zeit und Ewigkeit: du bist hier. Jetzt.
Meine Zeit steht in deinen Händen.
Alles hat seine Zeit. Das gilt für alles, was auf der Erde geschieht.
Neues Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit.
Kranksein hat seine Zeit und Gesundsein hat seine Zeit.
Weinen und Klage haben ihre Zeit, aber auch Jubel, Leichtigkeit und Freude.
Konflikte und Kriege haben ihre Zeit, aber auch Versöhnung und Friede.
Es gibt eine Zeit für Umarmung und Liebe, und eine Zeit für Loslassen und Sich-Trennen.
Es gibt eine Zeit für Rush-Hour, Schnelligkeit und Zeitdruck, und eine Zeit für Ruhe, Durchatmen und Pausen.
Alles hat Gott so eingerichtet, dass es schön ist zu seiner Zeit – sogar die Ewigkeit hat Gott dem Menschen ins Herz gelegt.
Nur dass der Mensch nicht in der Lage ist, das Werk Gottes zu begreifen: er durchschaut weder, wo es beginnt, noch wo es endet.
nach Prediger 3
Noch ein paar nachträgliche Gedanken zur FOMO-Thematik:
Vor einigen Jahren war ich für eine Woche in London. An einem der Morgen fuhr ich mit der U-Bahn zum Morgengebet in die St-Pauls-Cathedral. Ich ließ mich von den Menschenmassen in die U-Bahn spülen und staunte über all die unterschiedlichsten Menschen dort. So viele unterschiedliche Gesichter. So viele unterschiedliche Lebenswege und Lebensentwürfe. So viele unterschiedliche Religionen und Kulturen. Dazu gesellten sich die Eindrücke aus den Tagen davor: London als riesige, sich ständig verändernde Stadt. Überall Baustellen. Kaum etwas scheint Bestand zu haben. Alles scheint möglich. Kunst und Kultur in den Museen lassen erahnen, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten es gibt, über das Leben nachzudenken und das eigene Leben wahrzunehmen.
Ich kam mir klein und unbedeutend vor. Die Summe aller Eindrücke verunsicherte mich. Mir wurde klar: mein Leben könnte auch ganz anders aussehen. Wie würde sich mein Leben anfühlen, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte? Wenn ich einen anderen Beruf ergriffen hätte? Wenn ich woanders wohnen würde? Wenn ich eine andere Frau oder gar nicht geheiratet hätte? Wenn ich ohne Kinder wäre? Wenn ich etwas anderes glauben würde?
Ich spürte beinahe körperlich: Mit jedem Tag, der vergeht und mit jeder Entscheidung, die ich treffe, lasse ich ungelebtes Leben zurück. Mit jeder Entscheidung für eine bestimmte Sache (für einen Partner, für einen Beruf, für Kinder, usw.) entscheide ich mich zugleich gegen ganz viele andere Dinge (gegen andere mögliche Partner, gegen andere berufliche Wege, …). Mit jedem Tag, der vergeht, vergehen auch bestimmte Möglichkeiten, wie ich mein Leben anders hätte leben können.
Gewiss: Ich könnte aus all dem aussteigen, noch einmal völlig neu anfangen, mich völlig neu entwerfen – aber hätte dann immer noch das gleiche Grundproblem: dass ich dann mein jetziges Leben nicht weiterleben könnte. Und dass ich selbst im Falle des Neuanfangs auch nur wieder eines von vielen möglichen Leben leben würde.
Mit jeder Entscheidung für das eine, entscheiden wir uns gegen eine Fülle von anderen Möglichkeiten. Es bleibt also dabei: Mit jedem Tag lassen wir Wegkreuzungen hinter uns, auf denen wir auch anders hätten abbiegen können. Wegkreuzungen, zu denen wir nie mehr zurückkehren können.
In der Stille von St. Pauls Cathedral tauchte dann dieses Psalmwort in meinem Herzen auf und begann, den Sturm in meinem Inneren zu stillen:
Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohlmachen.
Psalm 37,5
Lass den Herrn deinen Weg bestimmen, vertrau auf ihn, und er wird es gut machen.
Ich merkte: da ich immer nur ein Leben aus all den vielen möglichen Leben leben kann, bin ich froh, mit Gott jemandem an meiner Seite zu haben, der sich mit all dem auskennt. Der den Überblick hat. Und der eine durch und durch gute Idee für mein Leben hat. Dieser Idee will ich folgen und darauf vertrauen, dass es ein guter Weg ist. Ein Weg der für mich und die Menschen um mich herum segensreich ist. Ich will meinen bisherigen Lebensweg annehmen, das wertschätzen, was mir an Gutem geschenkt ist und gelassen darauf vertrauen, dass Gott mich auch in Zukunft gut führen wird.
In der Stille lasse ich diese Gedanken in mir nachklingen …
Herr meiner Stunden und meiner Jahre, du hast mir viel Zeit gegeben.
Sie liegt hinter mir und sie liegt vor mir. Sie war mein und sie wird mein, und ich habe sie von dir.
Ich danke dir für jeden Schlag der Uhr und für jeden Morgen, den ich sehe.
Ich bitte dich nicht, mir mehr Zeit zu geben. Ich bitte dich aber um Weisheit und Willenskraft, dass ich meine Tage gut lebe.
Lehre mich, ein wenig Zeit freizuhalten von Ablenkung und Pflichten: ein wenig für Stille und Gebet, ein wenig für das Spiel, ein wenig für die Menschen um mich, die meine Liebe und meine Aufmerksamkeit brauchen.
Ich bitte dich um Sorgfalt, dass ich meine Zeit nicht töte, nicht vertreibe, nicht verderbe.
Jede Stunde ist wie ein Streifen Land. Ich möchte ihn aufreißen mit dem Pflug und Liebe hineinwerfen, damit Frucht wächst. Segne du meinen Tag.
nach Jörg Zink