Inmitten zwanghaften Überkonsums brauchen wir dringend mehr Stille (Impuls-Abstinenz)
Herzlich Willkommen zu LebensLiturgien, Staffel 6, Thema „Zeit“. Das mit der Zeit ist eine seltsame Sache: sie umgibt uns überall und bleibt doch ungreifbar. Manchmal vergeht sie quälend langsam, dann wieder viel zu schnell. Wir hätten gerne mehr von ihr – und vergeuden sie doch allzu oft. In dieser Staffel wollen wir versuchen, genau das tiefer zu verstehen und zu lernen, auf gute Weise in der Zeit zu leben.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt
und lasse es ruhig werden in mir.
Ich nehme mir Zeit und atme langsam und bewusst.
Herr über Zeit und Ewigkeit: du bist hier. Jetzt.
Meine Zeit steht in deinen Händen.
Alles hat seine Zeit. Das gilt für alles, was auf der Erde geschieht.
Neues Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit.
Kranksein hat seine Zeit und Gesundsein hat seine Zeit.
Weinen und Klage haben ihre Zeit, aber auch Jubel, Leichtigkeit und Freude.
Konflikte und Kriege haben ihre Zeit, aber auch Versöhnung und Friede.
Es gibt eine Zeit für Umarmung und Liebe, und eine Zeit für Loslassen und Sich-Trennen.
Es gibt eine Zeit für Rush-Hour, Schnelligkeit und Zeitdruck, und eine Zeit für Ruhe, Durchatmen und Pausen.
Alles hat Gott so eingerichtet, dass es schön ist zu seiner Zeit – sogar die Ewigkeit hat Gott dem Menschen ins Herz gelegt.
Nur dass der Mensch nicht in der Lage ist, das Werk Gottes zu begreifen: er durchschaut weder, wo es beginnt, noch wo es endet.
nach Prediger 3
In ihrem Buch „Die Dopamin-Nation“ argumentiert die Autorin Anna Lembke, Professorin für Psychiatrie und Suchtmedizin, dass wir in einem Zeitalter zwanghaften Überkonsums leben, in dem wir beinahe allesamt dopaminsüchtig geworden sind. Egal ob Genussmittel, Smartphone, Shopping oder harte Drogen: stets brauchen wir einen neuen Kick, einen neuen Reiz, eine neue Stimulanz, um möglichst keine Langeweile und keinerlei negative Gefühle aufkommen zu lassen. Nur dass durch diese ungesunden Mechanismen in uns erst Recht negative Gefühle, leere Oberflächlichkeit und eine tiefe innere Langeweile entstehen, die wir dann nur durch noch mehr Kicks und Reize zu bekämpfen versuchen. Und das geht dann immer so weiter: ein Sucht- und Betäubungskreislauf.
Eine der zentralen Gegenmaßnahmen, die sie empfiehlt, lautet: Abstinenz. Finger weg von all den Betäubungsmitteln und stattdessen Raum schaffen für das, was wirklich in uns ist. Das wird Langeweile mit sich bringen, ein inneres Gefühl der Rastlosigkeit und des Getriebenseins, das wird uns mit so einigen negativen Gefühlen konfrontieren, die in uns schlummern – aber es wird uns, wenn wir es aushalten, auch in die Freiheit führen. Es wird die Oberflächlichkeit unseres Lebens zerbrechen und uns neu oder tiefer mit Gott und mit uns selbst in Kontakt bringen.
Wir brauchen also dringend mehr Stille und Einsamkeit in unserem Leben. Stille, Impuls-Abstinenz und das Alleinsein mit Gott. Ohne Stille und das Alleinsein mit Gott verlieren wir schleichend den Kontakt sowohl zu Gott wie auch zu uns selbst. Ohne Stille und das Alleinsein mit Gott werden wir zunehmend innerlich erschöpft. Wir reagieren nur noch auf das je Lauteste und Drängendste und leben getrieben und oberflächlich vor uns hin. Ohne Stille und Alleinsein mit Gott werden wir zunehmend schneller genervt, unbarmherzig, unzufrieden oder traurig – und damit umso anfälliger für die Dopaminspender unseres Vertrauens: noch ein Glas Wein, noch eine Netflix-Serie, Pornografie, Soziale Medien, Fastfood oder welche Mittel wir sonst wählen, um uns kurzfristig mit dem Glückshormon und Tröster Dopamin zu versorgen.
In der Stille komme ich mit Gott ehrlich über meine Lieblings-Dopaminspender ins Gespräch – und auch darüber, ob ich an meiner aktuellen Praxis etwas ändern möchte …
Herr meiner Stunden und meiner Jahre, du hast mir viel Zeit gegeben.
Sie liegt hinter mir und sie liegt vor mir. Sie war mein und sie wird mein, und ich habe sie von dir.
Ich danke dir für jeden Schlag der Uhr und für jeden Morgen, den ich sehe.
Ich bitte dich nicht, mir mehr Zeit zu geben. Ich bitte dich aber um Weisheit und Willenskraft, dass ich meine Tage gut lebe.
Lehre mich, ein wenig Zeit freizuhalten von Ablenkung und Pflichten: ein wenig für Stille und Gebet, ein wenig für das Spiel, ein wenig für die Menschen um mich, die meine Liebe und meine Aufmerksamkeit brauchen.
Ich bitte dich um Sorgfalt, dass ich meine Zeit nicht töte, nicht vertreibe, nicht verderbe.
Jede Stunde ist wie ein Streifen Land. Ich möchte ihn aufreißen mit dem Pflug und Liebe hineinwerfen, damit Frucht wächst. Segne du meinen Tag.
nach Jörg Zink