Wir packen unser Leben so voll, weil wir nach seinem Ende nichts mehr erwarten.
Herzlich Willkommen zu LebensLiturgien, Staffel 6, Thema „Zeit“. Das mit der Zeit ist eine seltsame Sache: sie umgibt uns überall und bleibt doch ungreifbar. Manchmal vergeht sie quälend langsam, dann wieder viel zu schnell. Wir hätten gerne mehr von ihr – und vergeuden sie doch allzu oft. In dieser Staffel wollen wir versuchen, genau das tiefer zu verstehen und zu lernen, auf gute Weise in der Zeit zu leben.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt
und lasse es ruhig werden in mir.
Ich nehme mir Zeit und atme langsam und bewusst.
Herr über Zeit und Ewigkeit: du bist hier. Jetzt.
Meine Zeit steht in deinen Händen.
Alles hat seine Zeit. Das gilt für alles, was auf der Erde geschieht.
Neues Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit.
Kranksein hat seine Zeit und Gesundsein hat seine Zeit.
Weinen und Klage haben ihre Zeit, aber auch Jubel, Leichtigkeit und Freude.
Konflikte und Kriege haben ihre Zeit, aber auch Versöhnung und Friede.
Es gibt eine Zeit für Umarmung und Liebe, und eine Zeit für Loslassen und Sich-Trennen.
Es gibt eine Zeit für Rush-Hour, Schnelligkeit und Zeitdruck, und eine Zeit für Ruhe, Durchatmen und Pausen.
Alles hat Gott so eingerichtet, dass es schön ist zu seiner Zeit – sogar die Ewigkeit hat Gott dem Menschen ins Herz gelegt.
Nur dass der Mensch nicht in der Lage ist, das Werk Gottes zu begreifen: er durchschaut weder, wo es beginnt, noch wo es endet.
nach Prediger 3
Ronald Rolheiser – wir hatten das letzte Folge – bescheinigt uns Menschen des 21. Jahrhunderts also „pathologische Betriebsamkeit“, ein beinahe schon krankhaftes, getriebenes, fremdgesteuertes Ständig-und-immer-irgendetwas-Tun.
Wer oder was treibt uns da so? Was läuft da unterbewusst in uns ab, dass wir unsere Tage bis an den Rand vollpacken und dann durch all die angehäuften Aufgaben, Verpflichtungen, Termine, Hobbies und Freizeitmöglichkeiten hindurch hasten?
Zumindest eine der zentralen Antworten lautet: weil wir Angst haben vor unserer Vergänglichkeit. Weil wir uns unserer Endlichkeit nicht stellen wollen. Weil wir uns weigern, uns mit dem zu beschäftigen, was das Hiobbuch in Kapitel 14 so ausdrückt:
Der Mensch, geboren von der Frau, ist knapp an Tagen und unruhevoll. Er blüht wie eine Blume auf und verwelkt, er flieht wie ein Schatten, hat keinen Bestand. (…) Wie Wasser aus dem See verschwindet, wie ein Strom austrocknet und versiegt, so legt der Mensch sich irgendwann hin und steht nicht mehr auf.
Hiob 14, 1f. + 11f.
Oliver Burkeman, ehemaliger Zeitmanagement-Guru, der trotz immer perfekterer Effizienz irgendwann immer getriebener und unruhiger wurde, schreibt: „Wir schrecken vor der Vorstellung zurück, dass dies alles ist – dass dieses Leben, mit all seinen Mängeln und unausweichlichen Schwachstellen, seiner extremen Kürze und unserem begrenzten Einfluss auf seinen Verlauf, das einzige Leben ist, mit dem wir es versuchen können. (…) Anstatt uns unseren Grenzen zu stellen, wenden wir Vermeidungsstrategien an, um uns weiterhin grenzenlos zu fühlen. Wir treiben uns selbst zu Höchstleitungen an, indem wir Fantasien von der perfekten Work-Life-Balance nachjagen, oder führen Zeitmanagement-Systeme ein, die versprechen, dass wir für alles Zeit haben.“ (aus Oliver Burkeman, 4000 Wochen)
Hartmut Rosa, einer der führenden Soziologen, kommt zum gleichen Ergebnis. Er schreibt: „Die Beschleunigung wird uns zum Ewigkeitsersatz. Die moderne Gesellschaft ist überwiegend eine säkulare Gesellschaft. Das heißt, das Gewicht unserer Lebensführung liegt nicht auf einem imaginären Leben nach dem Tod, sondern auf einem Leben vor dem Tod. Und da sind wir zu der Einsicht gekommen, dass das gute Leben darin liegt, dass es ein reichhaltiges Leben ist. Dass wir möglichst viele und tiefe Erfahrungen und Erlebnisse haben. Und da liegt es nahe zu sagen: Wenn ich doppelt so schnell mache, kann ich zwei Leben in einem unterbringen. (…) Die Beschleunigung, die Steigerung der Erlebnisepisoden, ist unsere Antwort auf das Todesproblem geworden. Wir wollen ein ewiges Leben vor dem Tod haben.“ (aus Florian Opitz, Speed)
Der Mensch, geboren von der Frau, ist knapp an Tagen und unruhevoll. Er blüht wie eine Blume auf und verwelkt, er flieht wie ein Schatten, hat keinen Bestand. (…) Wie Wasser aus dem See verschwindet, wie ein Strom austrocknet und versiegt, so legt der Mensch sich irgendwann hin und steht nicht mehr auf.
Hiob 14, 1f. + 11f.
In der Stille lasse ich diese beunruhigende Wirklichkeit auf mich wirken und vertraue darauf, dass ich letztlich freier werde, wenn ich mich dieser Wirklichkeit stelle, anstatt sie zu verdrängen.
Herr meiner Stunden und meiner Jahre, du hast mir viel Zeit gegeben.
Sie liegt hinter mir und sie liegt vor mir. Sie war mein und sie wird mein, und ich habe sie von dir.
Ich danke dir für jeden Schlag der Uhr und für jeden Morgen, den ich sehe.
Ich bitte dich nicht, mir mehr Zeit zu geben. Ich bitte dich aber um Weisheit und Willenskraft, dass ich meine Tage gut lebe.
Lehre mich, ein wenig Zeit freizuhalten von Ablenkung und Pflichten: ein wenig für Stille und Gebet, ein wenig für das Spiel, ein wenig für die Menschen um mich, die meine Liebe und meine Aufmerksamkeit brauchen.
Ich bitte dich um Sorgfalt, dass ich meine Zeit nicht töte, nicht vertreibe, nicht verderbe.
Jede Stunde ist wie ein Streifen Land. Ich möchte ihn aufreißen mit dem Pflug und Liebe hineinwerfen, damit Frucht wächst. Segne du meinen Tag.
nach Jörg Zink