Im alten Israel dreht sich alles um die Gruppe. Bei uns um den Einzelnen.
Herzlich Willkommen zu Lebensliturgien, Staffel 7, „Unterwegs“. In dieser Staffel lassen wir uns von 15 Spezial-Psalmen, den sog. „Wallfahrtsliedern“, inspirieren, anfeuern und begleiten auf unserem Weg der Nachfolge. Denn wir sind und bleiben unterwegs. Unser Glaube ist nie fertig – genauso wenig wie unser Leben. Nur im Gehen, auf dem Weg, formen sich unser Glaube und unser Leben. Die fünfzehn Wallfahrtslieder leiten uns dazu an, unseren Weg mit Ausdauer zu laufen: treu, zuverlässig, mit langem Atem, das Ziel fest im Blick. Denn auf dem Weg hin zu mehr Reife, Echtheit und Tiefe im Glauben gibt es keine Abkürzung. Und jetzt: gute Reise.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt
und lasse es ruhig werden in mir.
Ich sammle meine Gedanken und atme langsam und bewusst.
Du Gott der Wege: du bist hier. Jetzt. Mit mir.
Du wirst mich mit deinen Augen leiten.
Wir hören auf Worte aus dem Hebräerbrief, Kapitel 12 und 13:
Wir sind umgeben von einer ganzen Wolke von heiligen Zeugen, die uns anfeuern. Deshalb legt alles ab, was Euch beschwert! Jede Sünde, die Euch gefangen nimmt! Lauft ausdauernd und geduldig dem guten Ziel entgegen! Richtet Euren Blick dabei auf Jesus: er hat diesen Weg begonnen und vollendet – durch Anfeindungen, Schwierigkeiten und Leid hindurch. Wenn Ihr müde werdet und strauchelt: schaut auf ihn! Das wird Euch neue Kraft geben.
Stärkt eure müden Hände und die zitternden Knie. Lenkt eure Schritte entschlossen in die richtige Richtung. Geht auf geraden Wegen, damit niemand stolpert und fällt. Hütet euch vor dem Esau-Syndrom: gebt Gottes lebenslange Gabe und seinen Segen nicht weg, nur um kurzfristig euren Appetit zu stillen. Denn wir haben hier auf der Erde keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Zu ihr sind wir unterwegs.
So möge Euch der Gott des Friedens die Kraft geben, all das Gute zu tun, das nach seinem Willen durch euch geschehen soll. Durch Jesus Christus bewirke er in Eurem Leben das, woran er Freude hat. Gottes Gnade sei mit euch allen!“
aus dem Hebräerbrief, Kapitel 12+13
Wir sind noch immer bei Psalm 122. Heute – und in den nächsten Folgen – vertiefen wir uns in das Thema Gemeinschaft. Denn Psalm 122 steckt bis oben hin voller Gemeinschaft. Alles in diesem Psalm ist „wir" und „uns“. Pilgern war – wie im Grunde auch alles andere – im alten Israel Gemeinschaftssache.
Wie sehr habe ich mich gefreut, als sie zu mir sagten: „Zum Hause des HERRN wollen wir ziehen!“ Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem, wie beeindruckend bist du gebaut: fest und in dir geschlossen. Zur dir hinauf ziehen die Stämme des Herrn, um Gottes Namen zu preisen! So ist es angeordnet und gut.
Psalm 122, 1-4
„Zu dir hinauf ziehen die Stämme des Herrn, um Gottes Namen zu preisen.“ Hier geht es nicht nur um eine Familie oder eine Dorfgemeinschaft: hier geht es darum, dass möglichst alle Israeliten – aus Nah und Fern und aus allen zwölf Stämmen – sich zu den großen Festen nach Jerusalem aufmachen, um dort gemeinsam zu feiern und Gott anzubeten.
Dieses große „Gemeinsam“ und unsere westliche, ausindividualisierte Kultur könnten verschiedener nicht sein. Soziologen unterscheiden mit Blick auf Gesellschaften und Kulturen zwischen starken Gruppen und schwachen Gruppen. In Gesellschaften und Kulturen, die zu den starken Gruppen gehören, ist der Einzelne stark eingebettet in das Ganze der Gruppe. Zuerst und zuletzt geht es immer um das Wohl der Gruppe. Alles eigene Tun muss dem Interesse des größeren Ganzen dienen. Eine Freiheit des Einzelnen gibt es nur im sehr eng gesteckten Rahmen dessen, was man innerhalb der Gruppe besser tut oder lässt. Im Grunde gehört so ziemlich jede Kultur auf der ganzen Welt und quer durch die Menschheitsgeschichte zu dieser Art von Gruppe.
Außer: unsere Kultur. Außer unsere westliche, moderne Kultur des Individualismus, die sich aus der Aufklärung heraus entwickelt und in den letzten Jahrzehnten noch einmal gewaltig verdichtet, man könnte auch sagen radikalisiert hat. In unserer Kultur gilt: das Glück, die Selbstbestimmung und die Vorlieben des Einzelnen sind wichtiger als die Gruppe. Eine Gruppe ist nur dann von Wert, wenn sie dem Wohl des Einzelnen dient. Wir haben keine Lust, uns irgendwelchen Autoritäten unterzuordnen. Wir vermeiden nach Möglichkeit allzu starke Bindungen und Festlegungen. Wir wollen uns frei bewegen, frei entfalten, frei leben.
David Brooks greift diese beiden Pole auf und schreibt: „Es gibt eine unauflösbare Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, zwischen dem Individuum und der Gruppe. In den letzten 60 Jahren haben wir uns in unserer Kultur jedoch viel zu sehr auf den Einzelnen konzentriert. Wir müssen dringend das Gleichgewicht zwischen Individuum und Gruppe herstellen und eine Kultur schaffen, die die Menschen auf Beziehungen, Gemeinschaft und Engagement ausrichtet, also auf die Dinge, nach denen wir uns zutiefst sehnen, die wir aber durch unsere hyperindividualistische Lebensweise untergraben.“
Weil ich diese Analyse teile, werden wir uns die nächsten Folgen intensiver mit dem Thema Gemeinschaft beschäftigen – vor allem anhand von Bonhoeffers Buch „Gemeinsames Leben“.
Jetzt aber zum Abschluss noch einmal Psalm 122:
Wie sehr habe ich mich gefreut, als sie zu mir sagten: „Zum Hause des HERRN wollen wir ziehen!“ Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem, wie beeindruckend bist du gebaut: fest und in dir geschlossen. Zur dir hinauf ziehen die Stämme des Herrn, um Gottes Namen zu preisen! So ist es angeordnet und gut.
Psalm 122, 1-4
In der Stille reflektiere ich mein eigenes Leben. Wie intensiv bin ich eingebunden in das Leben einer Gruppe? Wie oft ordne ich mich unter oder ein?
Verleih mir, gütiger und heiliger Vater, in deiner Huld:
einen Verstand, der dich versteht,
einen Sinn, der dich wahrnimmt,
einen Eifer, der dich sucht,
ein Herz, das dich liebt,
ein Tun, das dich verherrlicht,
eine Geduld, die auf dich harrt;
gib mir deine heilige Gegenwart, einen guten Tod
und eine glückliche Auferstehung im ewigen Leben.
Benedikt von Nursia
Amen.