In den Monaten nach Albany fühlt Martin Luther King sich anhaltend deprimiert. Eine Reaktion darauf, eine seiner Reaktionen auf Stress und Druck und quälende innere Gedanken sind seit einiger Zeit Affären.
Herzlich Willkommen zu Lebensliturgien, Staffel 8, Gerechtigkeit ströme wie Wasser. In dieser Staffel begegnen wir dem Leben und den Worten von Martin Luther King: gewaltloser Widerstandskämpfer, Bürgerrechtler, Friedensnobelpreisträger und Pastor. Martin Luther King hatte ein besonderes Gespür für Gottes gerechtigkeitsliebendes Herz, eine klare Berufung von Gott und: er hatte den Mut, sich mit unermüdlicher Ausdauer für Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde aller Menschen einzusetzen – koste es, was es wolle. Möge Gott uns mit seinem guten Geist leiten.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt und lasse es ruhig werden in mir.
Ich sammle meine Gedanken und atme langsam und bewusst.
Gewiss: Gott fordert eine ganze Menge, ruft uns ins Tun des Gerechten.
Davor aber beschenkt er uns. Lässt uns ruhen. Und rüstet uns aus mit seinem Geist. In der Stille bete ich: „Komm, Heiliger Geist.“
Wir hören Worte aus Jesaja 58, Psalm 34 und Lukas 6:
Gott spricht: Ein frommes Leben, das mir gefällt, sieht so aus: Löst die Fesseln der Ungerechtigkeit! Knotet alle Jochstricke auf! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! Lasst ab vom Bösen und tut Gutes; sucht Frieden und jagt ihm nach! Liebt eure Feinde und tut wohl denen, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen und betet für die, die euch beleidigen.
Wenn Ihr das tut, wird eure Gerechtigkeit vor euch hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird euren Zug beschließen. Dann wird euer Licht wie die Morgenröte aufstrahlen, und eure Wunden werden schnell heilen. Dann werdet Ihr rufen und der HERR wird antworten: ›Siehe, hier bin ich.‹ Dann wird der Herr euch immerdar führen und Ihr werdet sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Quelle, die niemals versiegt.
In den Monaten nach Albany fühlt Martin Luther King sich anhaltend deprimiert. Eine Reaktion darauf, eine seiner Reaktionen auf Stress und Druck und quälende innere Gedanken sind seit einiger Zeit Affären. Natürlich weiß er, wie wichtig es gerade für ihn ist, den moralischen Standards gerecht zu werden. Zumindest sein Kopf weiß, welch verheerende Folgen eine Aufdeckung seiner Affären hätte. Aber dieses Wissen ist zu schwach. Zudem gelten – zumindest unter der Hand – ehebrecherische Aktivitäten als relativ normal zu seiner Zeit und in seinem Umfeld. Auch sein Vater steht im Ruf, diverse Affären zu haben. Dazu kommt die beständige Versuchung. Ralph Abernathy, enger Freund und Weggefährte, schreibt über diese Versuchung:
Martin Luther King war der wichtigste Schwarze Mann in Amerika. Allein diese Tatsache verlieh ihm eine Aura von Macht und Größe, die Frauen sehr anziehend fanden. (…) Aber er hatte auch persönlichen Charme. (…) Frauen gegenüber war er immer liebenswürdig und zuvorkommend, egal ob er sie attraktiv fand oder nicht. Er war warmherzig und freundlich. Er konnte Frauen zum Lachen bringen. Er war ein guter Gesellschafter. Diese Eigenschaften machten ihn auf die Nähe noch attraktiver als aus der Ferne.
Je mehr Druck, Todesdrohungen, Schwierigkeiten und Misserfolge Martin Luther King erlebt und je öfter er diesen Versuchungen nachgibt, desto weniger setzt er sich gegen sie zur Wehr. Desto öfter umarmt er die Versuchungen und gibt ihnen schnellstmöglich nach. Manchmal sucht er sie regelrecht. Im November 1962 verbringt King neun aufeinanderfolgende Tage in Atlanta, aber nur zwei Nächte davon zuhause. Die Affären, die Leichtigkeit, das Begehren, der Rausch, das Neue – all das lässt ihn die Schwere und das Bedrückende seines Lebens für eine kleine Weile vergessen. Zugleich legt es ihm neue Lasten auf die Seele – später natürlich auch auf seine Ehe, die Familie und die ganze Bewegung.
Wie Martin Luther King mit dieser inneren Spannung umgeht, zeigt sich an einer seiner Predigten mit dem Titel „Mans sin and gods grace“. Dort unterscheidet er das private Selbst und das öffentliche Selbst, die sich zueinander verhalten wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Wir alle haben eine Privatsphäre, für die wir uns schämen und die wir immer zu verbergen suchen. Und so läuft es darauf hinaus, dass wir Sünder sind, die der erlösenden Kraft Gottes bedürfen. Wir kennen die Wahrheit, und doch lügen wir. Wir wissen, wie wir gerecht sein können, und doch sind wir ungerecht. Wir wissen, wie wir unser Leben auf der Ebene der Liebe leben können, und doch hassen wir, oder wir sind denen untreu, denen wir treu sein sollten ... Jeder Mensch macht diese Erfahrung. Und deshalb erkennt der Heilige immer, dass er ein Sünder ist ... Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich mich selbst intensiv und eingehend betrachte und von meinem öffentlichen Ich zu meinem privaten Ich zurückkehre, ertappe ich mich dabei, wie ich sage: »Herr, sei mir Sünder gnädig!«
Was in dieser Predigt fehlt ist das Thema Reue, Buße – und die damit verbundene Bereitschaft umzukehren. Die Bereitschaft, mit der eigenen Sünde zu brechen, etwas substanziell zu verändern. Stattdessen bleibt Martin Luther King ganz beim Thema der Gnade Gottes – und unserer menschlichen Bedürftigkeit nach ihr.
Wo gibt es in meinem Leben Ungutes, Sünde, gegen die ich beinahe vollständig aufgehört habe zu kämpfen?
Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens und deiner Gerechtigkeit,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.
Amen.
nach Franz von Assisi