Während des großen Marschs auf Washington hält Martin Luther King seine berühmte Rede.
Herzlich Willkommen zu Lebensliturgien, Staffel 8, Gerechtigkeit ströme wie Wasser. In dieser Staffel begegnen wir dem Leben und den Worten von Martin Luther King: gewaltloser Widerstandskämpfer, Bürgerrechtler, Friedensnobelpreisträger und Pastor. Martin Luther King hatte ein besonderes Gespür für Gottes gerechtigkeitsliebendes Herz, eine klare Berufung von Gott und: er hatte den Mut, sich mit unermüdlicher Ausdauer für Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde aller Menschen einzusetzen – koste es, was es wolle. Möge Gott uns mit seinem guten Geist leiten.
Zu Beginn meines Betens lege ich zur Seite, was mich beschäftigt und lasse es ruhig werden in mir.
Ich sammle meine Gedanken und atme langsam und bewusst.
Gewiss: Gott fordert eine ganze Menge, ruft uns ins Tun des Gerechten.
Davor aber beschenkt er uns. Lässt uns ruhen. Und rüstet uns aus mit seinem Geist. In der Stille bete ich: „Komm, Heiliger Geist.“
Wir hören Worte aus Jesaja 58, Psalm 34 und Lukas 6:
Gott spricht: Ein frommes Leben, das mir gefällt, sieht so aus: Löst die Fesseln der Ungerechtigkeit! Knotet alle Jochstricke auf! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! Lasst ab vom Bösen und tut Gutes; sucht Frieden und jagt ihm nach! Liebt eure Feinde und tut wohl denen, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen und betet für die, die euch beleidigen.
Wenn Ihr das tut, wird eure Gerechtigkeit vor euch hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird euren Zug beschließen. Dann wird euer Licht wie die Morgenröte aufstrahlen, und eure Wunden werden schnell heilen. Dann werdet Ihr rufen und der HERR wird antworten: ›Siehe, hier bin ich.‹ Dann wird der Herr euch immerdar führen und Ihr werdet sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Quelle, die niemals versiegt.
Die Atmosphäre während des großen Marsches auf Washington ist eine sehr besondere, so berichten es viele Teilnehmer im Anschluss. Schon auf dem Weg vom Bahnhof zum großen Versammlungsplatz liegt ein gewisser Zauber über den Menschen: junge Leute tragen älteren Teilnehmenden ihr Gepäck, Väter tragen ihre Töchter auf den Schultern und Mütter schieben Babys im Kinderwagen. Weiße Leute sprechen Schwarze respektvoll mit „Sir“ und „Ma‘am“ an und wünschen ihnen einen guten Morgen. Der Tag ist ein wunderschöner, nicht zu heißer Sommertag, in den Bäumen surren die Zikaden, an vielen Orten wird Gitarre gespielt und gesungen. Überall lagern sich Schwarze und weiße Menschen ins Gras, ziehen ihre Schuhe aus, picknicken, reden und hören der Musik von Künstlern wie Mahalia Jackson und Bob Dylan zu, die zwischen den zahlreichen Rednern auftreten.
Schließlich – als Schlussredner und Höhepunkt – wird Martin Luther King angekündigt, dessen Rede live per Rundfunk und Fernsehen in sämtliche Staaten der USA übertragen wird. Martin Luther King tritt an das Rednerpult. Er sieht die schier endlos scheinenden Menschenmassen, die sich vor ihm bis zum Horizont erstrecken und er weiß um die Millionen vor den Fernsehbildschirmen und ist angespannt. Er zittert leicht, seine Stimme jedoch ist fest, ruhig und stark, als er zu sprechen beginnt:
Vor hundert Jahren unterzeichnete ein großer Amerikaner, in dessen symbolischem Schatten wir heute stehen, die Emanzipationsproklamation. Dieser bedeutsame Erlass war ein großes Leuchtfeuer der Hoffnung für Millionen schwarzer Sklaven, die von den Flammen vernichtender Ungerechtigkeit gebrandmarkt waren. Er kam wie ein freudiger Tagesanbruch nach der langen Nacht ihrer Gefangenschaft. Aber hundert Jahre später ist der Schwarze immer noch nicht frei. Hundert Jahre später ist das Leben des Schwarzen immer noch verkrüppelt durch die Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung.
King fährt fort, die Hände am Rednerpult, dass nun die Zeit gekommen ist, den Scheck der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung einzulösen, der allen Menschen das Recht auf Leben, Freiheit und Glück verspricht.
Es wird weder Ruhe noch Rast in Amerika geben, bis dem Schwarzen die vollen Bürgerrechte zugebilligt werden. Die Stürme des Aufruhrs werden weiterhin die Grundfesten unserer Nation erschüttern, bis der helle Tag der Gerechtigkeit anbricht. (…) Wir dürfen uns allerdings keiner unrechten Handlung schuldig machen. Lasst uns nicht aus dem Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen.(…) Immer wieder müssen wir uns zu jener majestätischen Höhe erheben, auf der wir physischer Gewalt mit der Kraft der Seele entgegentreten. Der wunderbare, neue kämpferische Geist, der die Gemeinschaft der Schwarzen erfasst hat, darf uns nicht verleiten, allen Weißen zu misstrauen. Denn viele unserer weißen Brüder - das beweist ihre Anwesenheit heute - sind zu der Einsicht gekommen, dass ihre Zukunft mit der unseren untrennbar verbunden ist.
Martin Luther Kings Bühnenpräsenz, seine Posen und Gesten, die er fast ein ganzes Leben lang geübt hat, erreichen die Menschen. Seine Worte fesseln die Menschen. Und doch – obwohl er die ihm zugestandenen sieben Minuten Redezeit bereits ausgefüllt hat – scheint noch etwas zu fehlen. Vor einiger Zeit hatte King in einer Rede in Chicago von seinen Träumen gesprochen. Daran erinnert er sich jetzt, als Freunde hinter ihm rufen: „Erzähle ihnen von deinem Traum, Martin!“ Er legt sein vorbereitetes Manuskript zur Seite und beginnt. Die Worte kommen aus ihm wie ein Song, wie ein Kirchenlied.
Ich habe einen Traum. Ich habe noch immer einen Traum.
Jetzt kommt Bewegung in ihn an seinem Rednerpult. Er lehnt sich zurück, blickt zum Himmel auf, die Menge feuert ihn an. Nun sind sie keine Zuhörer mehr, sondern Mitträumende.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum ...
Aus dem Redner Martin Luther King wird nun vollends der Prediger. Wie in Trance wirkt er, vom Geist Gottes ergriffen. Seine Worte leuchten hell.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. (…) Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen. Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, die schrillen Missklänge in unserer Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammenzuarbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, dass wir eines Tages frei sein werden.
Während seiner Schlussworte streckt er beide Arme aus, ballt die Fäuste und stellt sich auf seine Fußspitzen:
Wenn wir die Freiheit erschallen lassen - wenn wir sie erschallen lassen von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat und jeder Großstadt, dann werden wir den Tag beschleunigen können, an dem alle Kinder Gottes - schwarze und weiße Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken - sich die Hände reichen und die Worte des alten Spirituals singen können: »Endlich frei! Endlich frei! Großer, allmächtiger Gott, endlich sind wir frei!«
In der Stille lasse ich diese Worte in mir nachklingen. Wenn mir etwas auf dem Herzen liegt, spreche ich mit Gott darüber.
Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens und deiner Gerechtigkeit,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.
Amen.
nach Franz von Assisi